Bericht: Von der Muslimbruderschaft zum Islamischen Staat

Am 22.11.2017 veranstaltete das Referat für Politische Bildung im AStA der Universität Bonn einen Vortrag „Von der Muslimbruderschaft zum Islamischen Staat“.

Dr. Matthias Küntzel präsentierte zuerst vier Prämissen des heutigen Islamismus, zeichnete dann die historische Entwicklung dieser Struktur in dem Aufstieg der Muslimbruderschaft nach und widersprach schließlich der heute verbreiteten These eines Religionskrieges zwischen Sunniten und Schiiten.

Einleitend grenzte sich der Referent von zwei Arten des Rassismus ab: Einerseits einem klassischen rechten Rassismus, andererseits einem linken, paternalistischen. Letzterer unterbinde den Einspruch gegenüber Fehlverhalten bei Muslimen, während analoge Fälle in anderen Zusammenhängen scharf kritisiert würden. Dieses Verhalten, welches sich als selbst antirassistisch begreife, sei – so wurde auch später diskutiert – auch der Grund für die weitgehende Aufgabe der eigentlich für die Linke konstitutiven Religionskritik.

Dem Islamismus der Muslimbruderschaft näherte Matthias Küntzel sich über ihre Symbolik bzw. ihr Wappen. Bereits in dieser zeigt sich der Bezug auf Islam und Koran – der wortgläubig aufgefasst wird – und den globalen Wirkungsanspruch. Dem entspricht auch die Praxis der Muslimbruderschaft, bereits kurz nach ihrer Gründung in Kairo Untergruppen mit Verantwortung für die verschiedenen Erdregionen zu bilden und die eigene Präsenz multilingual anzulegen. Weiterhin wird im Wappen mit Schwertern der Djihad symbolisiert, wobei die Muslimbrüder sich in ihrer Politik nicht auf die Waffen des 7. Jahrhunderts beschränken. Hinzu tritt die Todesbereitschaft, die in der Entwicklung zu Selbstmordattentätern ihre Form findet. Ein weiteres Element ist der islamische Antisemitismus, der eine Synthese von altem islamischen Antijudaismus und europäischen Antisemitismus bildet. Nicht mehr das Judentum ist das Böse, sondern alles Böse jüdisch. Im Zuge seiner Entwicklung orientierte er sich zunehmend vom Judenhass zum Antizionismus und der Vernichtung Israels hin um.

Es folgte eine Schilderung der Gründung der Muslimbruderschaft 1928. Diese füllte überall dort die Lücken, wo der ägyptische Staat versagte. Sie bildete Sozialorganisationen, in denen aber eine antimoderne Gesellschaftspolitik betrieben wurde. Von vorne herein waren hierbei Frauen die Gegnerinnen. Diese hatten schon in den 30ern – von der globalen Frauenbewegung beeinflusst – begonnen Kopftücher abzulegen und das Frauenwahlrecht zu fordern – für die Muslimbrüder mit dem Koran unvereinbar. Bereits in dieser sehr frühen Phase begann zudem eine starke Zusammenarbeit der Muslimbruderschaft mit dem Nationalsozialismus.

In den 60ern bekämpfte die Nasser-Regierung die Muslimbruderschaft und setzte auf Verfolgung und Repression. Gefängnis und Folter verstärkten in letzter Konsequenz allerdings auch Radikalisierung. Das Ende dieser Phase fiel mit einer neuen Strategie der Muslimbruderschaft zusammen: Sie sagten Gewaltverzicht zu und gaben vor, sich in moderate Reformmuslime verwandelt zu haben und sich an Wahlen beteiligen zu wollen.

Mit der Islamischen Revolution im Iran 1979 entstand dann tatsächlich ein Herrschaftsgebilde, welches sich als eben revolutionärer Staat versteht, auch außerhalb des eigenen Herrschaftsgebietes agiert und einen globalen Herrschaftsanspruch vertritt. Ein Beispiel für diesen Herrschaftsanspruch ist die Fatwa gegen Salman Rushdie. Auf die Tötung des Schriftstellers wurde vom Iran ein immer wieder erhöhtes Kopfgeld ausgesetzt. Islamisches Recht sollte auch außerhalb des islamischen Herrschaftsgebietes vollstreckt werden. Dieser Herrschaftsanspruch behauptet sich der Macht mittlerweile in vier Hauptstädten von Anrainerstaaten des Iran.

Mit dem Anschlag auf das World-Trade-Center am 11. September 2001 wurde dann ein – im wesentlichen auch antisemitisch motivierter – Selbstmordanschlag durchgeführt, für den viele Linken in einer Art Robin-Hood-Analogie sogar Verständnis hervorbrachten. Dabei waren die veröffentlichten Äußerungen Osama Bin Laden schlecht fehl zu interpretieren: Er hatte die US-Bevölkerung aufgefordert, zukünftig nicht mehr wählen zu gehen, sondern statt dessen dem Koran zu vertrauen.

Mit der Gründung eines Kalifats durch die Organisation „Islamischer Staat“ 2014 wurde ein Herrschaftsgebilde geschaffen, welches den Herrschaftsanspruch so auf die Spitze trieb, dass zunehmend auch die anderen islamistischen Systeme als geringere Übel angesehen wurden, an der Anti-IS-Allianz beteiligten sich auch iranische Streitkräfte. Hier war die Rolle des Irans eine Doppelstrategie: Teheran spielt gleichzeitig Brandstifter und Feuerlöscher, förderte und bekämpfte den IS gleichzeitig und baut so seine Macht im Großraum aus.

Fazit: Die Muslimbruderschaft bildete für diese gesamte Entwicklung des Islamismus den ideologischer Bezugspunkt und organisatorischen Kern. Dies lässt sich an den personellen Verknüpfungen aufzeigen. Doch bildet dies keinen stetigen Prozess im gesamten heutigen Islamismus. Beispielsweise wurde die Taktik der Selbstmordanschläge von sunnitischen Islamisten erst ab Anfang der 90er Jahre praktiziert, schiitische Islamisten hatten schon 10 Jahre zuvor damit begonnen.

Matthias Küntel widerspricht der These, dass es sich bei den Auseinandersetzungen im Nahen und Mittlerern Osten im Kern um einen Religionskrieg zwischen Sunniten und Shiiten handle. Vielmehr führten sunnitischer und shiitischer Islamismus trotz aller Differenzen einen gemeinsamen Kampf. An diesem beteiligten sich aber auch die breite Mehrheit von Sunniten und Shiiten nicht. Gemeinsam sei diesem Kampf das Feindbild von Westen, Israel und Moderne.

Riad und Teheran seien hierbei nicht gleichzusetzen, da Saudi-Arabien trotz aller zu kritisierender Handlungen und Einflussnahme in der Region eine Status Quo-Macht sei, in der das Königtum mittlerweile in Abkehr zur Förderung des Terrorismus in den 90ern tatsächliche Reformen anstrebe.

Matthias Küntzel warnte davor, dass der Westen – wie schon in Afghanistan – immer wieder Islamismus unterstütze. Dieser Islamismus stellt für Matthias Küntzel in der Konzeption Hanna Arendts den dritten Totalitarismus dar. Er strebe hier nach Atomwaffen und setze mit Selbstmordattentaten schon seit dem Iran-Irak Krieg auf ein neues Element der Kriegsführung, zu dessen Ächtung ein neuer globaler Konsens gebaut werden müsse. Selbstmordattentate als Kriegsform sollten zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt werden.

Doch gebe es momentan auch positive Tendenzen: Die Beschäftigung mit Säkularismus nehme zu, subversive Tendenzen seien wahrnehmbar und auch Machthaber im Nahen und Mittleren Osten spielten mit Ideen einer tatsächlichen Änderung des Islamverständnisses, die nicht alleine den Koranrahmen akzeptierten.

Für erste gelte es aber, die freien Gesellschaften bzw. ihre Elemente zu verteidigen. Die Debatte über die Beziehung von Islamismus und Faschismus muss dringend geführt werden.

Bericht/Protokoll: Werner Hager
Ein Flyer der Veranstaltung findet sich hier
Ein Video wird noch nachgereicht, sobald dieses per youtube verfügbar ist. Eine Audioaufzeichnung inklusive der Diskussion findet sich hier.

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