Debattenbeitrag: Kritik

Debattenbeitrag von Werner Hager 13.5.2016

Kritik ist die Grundlage der Aufklärung. Alles unterliegt der Kritik.

Marx schrieb 1844 am Vorabend der Märzrevolution: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte Ludwig Feuerbach seine monumentale materialistische Religionskritik bereits geäußert und grundsätzlich auch die Phase empirischer oder rationalistischer Gottesbeweise oder Gotteswiderlegungen abgeschlossen. Aber bereits bei den Aufklärungsreligionen oder bei Kant und Hegel war von einem persönlichen Gott nichts mehr übrig.
Pech für die Welt, dass die späteren Generationen die Religionskritik der Aufklärung nicht verstehen konnten oder wohl eher wollten.

Kritik von allem und jedem ist nicht nur legitim, sondern dringend notwendig und dabei ist auch Kritisierung religiöser Denkformen wieder vorrangig. Kritik an Religion heute ist aber nicht nur die Kritik des Christentums, sondern auch des Judentums, des Islams und einer Reihe weiterer Erscheinungen, die begrifflich weniger leicht unter den vom Christentum abgeleiteten Religionsbegriff fallen, dennoch aber Idole erzeugen. Mittlerweile kommen Verfallsformen wie die Wiederkehr des Animismus oder Patchwork-Religionen dazu.

Wer deren Kritik nicht beherrscht, wird die von der Moderne selbst erzeugten Ideologien nie durchschauen können und bleibt so letztlich unmündig vor den Verhältnissen.

Wer sich heute „kritisch“ mit dem Christentum beschäftigt, leistet aber häufig keine Kritik des Christentums als Religion, sondern schreibt wie Karl-Heinz Deschner eine „Kriminalgeschichte des Christentums“. Sehr beliebt sind auch Debatten über das Verhältnis einzelner Religionen oder auch Religion an sich zur Gewalt. Oder die Frage der Nützlichkeit der Religion oder auch deren Fehlens. Solche Fragen hätten Menschen in der Aufklärung nicht gestellt.

Jetzt zum Begriff der ‚Islamkritik‘. Islamkritik kann einerseits bedeuten, den Islam zu kritisieren, weil er eine Religion ist, sofern der Religionsbegriff auf ihn ausgedehnt wird – dies ist aber üblich. Ähnlich dem Christentum lässt sich aber auch eine immanente Kritik in seinen Texten anwenden. Die historisch-kritische Methode ist ja bereits entwickelt. Auch die Person Mohammeds lässt sich kritisch sehen bis historisch bezweifeln, was über sie überliefert wurde.

Unter dem Begriff der Islamkritik werden aber auch Legitimationsvorstellungen kritisiert. Hier hat der Islam in der Sache mehr zu bieten als das Christentum, welches unterhalb römischer Herrschaft entstand. Auch diese Kritik ist – wie eben jede – nicht nur legitim, sondern sogar zwingend geboten. Auffällig ist aber jetzt tatsächlich, dass zwar Kritik an – ebenfalls nicht- oder sogar antiliberalen – Rechtsvorstellungen christlicher Kirchen hörbar ist, diese aber in der öffentlichen Debatte als wichtige Bündnispartnerinnen geschätzt werden. Europa ist weit weniger aufgeklärt als sein Bild in der Welt und eben auch auf die eigene „Kultur“ und den „Respekt“ stolz. Allein der Begriff des „Respekts“ verunmöglicht aber bereits Kritik. Der Begriff der „Meinung“ abstrahiert vom Wahrheitsgehalt von Aussagen.

Kritik ist eine Methode. Kritik ist nicht unparteiisch, sondern gegen ihren Gegenstand gerichtet, der sich behaupten muss. Nicht das nüchterne Durchkauen, sondern die Polemik ist die Ausdrucksform der Aufklärung. Diese ist aber hart vom Ressentiment getrennt. Auch Polemik muss der Kritik standhalten können.

Kritik ist Kritik des Gegenstandes, Suche nach Wissen, nie Vorsicht vor dem möglichen Ausgang der Frage, nie Selbstzurücknahme. Ein Gegenstand der Kritik muss dem Wissen dieser Welt widerstehen, um sich behaupten zu können. Kritik ist keine Sache alleine des Binnenbereiches. Sicherlich ist immanente Kritik die höchstentwickelste Form, aber auch äußere Kritik stellt den Gegenstand existentiell in
Frage.

Kritik ist zweierlei aber nicht: Erstens das Einknicken vor antizipierten Fehldeutungen der Anwendung von Kritik. Zweitens das Anwenden der vergleichenden Methode.

Die bestehende Gesellschaft hat den Geist des Widerspruchs verlernt oder korrekter: lernt und schätzt ihn nicht mehr. Daran lässt sich aber arbeiten. Mein Vorschlag hierzu ist, sich zuerst einmal mit Verschwörungstherorien oder überhaupt der Gültigkeit von Argumentationen zu beschäftigen.

Verwandte Artikel