Auf der BDK von Bündnis 90 / Die Grünen im Oktober 2022 in Bonn wurde ohne Gegenstimmen eine Antrag angenommen, der sich mit weitergehenden Maßnahmen zur Aufklärung und Verhinderung sexualisierter Gewalt in religiösen und weltanschaulichen Institutionen befasst.
In dem Beschluss wird u.a. die Einführung eines neuen Absatzes in § 174c StGB gefordert, mit dem sexualisierte Gewalt „an einer Person, die ihm zur Beratung oder
Begleitung im institutionell religiösen oder weltanschaulichen Kontext anvertraut ist“ mit dem erhöhten Strafrahmen dieser Vorschrift sanktioniert werden kann – genau wie in den schon erfassten Fällen des Mißbrauchs „unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses“. Im Kontext institutionalisierter Seelsorge sollen Dokumentations- und Aufbewahrungspflichten gesetzlich normiert werden ähnlich wie bereits für den therapeutischen Bereich geregelt; die Prüfung einer Verlängerung der Verjährungsfristen wird ebenfalls verlangt.
In dem Beschluss wird erfreulicherweise nicht lediglich auf die in der Öffentlichkeit bereits breit diskutierten Missbrauchsfälle in der römisch-katholischen und der evangelischen Kirche orientiert, sondern auch auf die Bekämpfung sexualisierter Gewalt in anderen Religions- und Weltanschauungs- gemeinschaften. Diese bleiben bislang im Dunkeln; im Interesse der Betroffenen muss der Scheinwerfer der Öffentlichkeit auch auf diese Bereiche gerichtet werden.
Nach Vorarbeiten in der BAG Säkulare Grüne kam es im Jahr 2022 zu dem Projekt eines gemeinsamen von den Säkularen Grünen und der BAG Christ*innen getragenen Antrags zur sexualisierten Gewalt an die BDK. Diesem Projekt schloss sich die BAG Frauen an. Ein großer Erfolg, der ganz wesentlich auf der hervorragenden Zusammenarbeit mit der BAG Christ*innen beruht.
Beschluss vom 15.10.2022, 48. ordentliche BDK Bündnis 90/Die GrünenBonn
Sexualisierte Gewalt in religiösen und weltanschaulichen Institutionen konsequent aufklären und künftig verhindern
Bündnis 90/Die Grünen setzt sich für die Bekämpfung, Aufklärung und Aufarbeitung von
sexualisierter Gewalt in allen gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen ein. Ebenso
setzen wir uns für konsequente Prävention gegen jede Form von sexualisierter Gewalt ein.
Religiöse und weltanschauliche Institutionen sind häufig in sich geschlossene, patriarchal-
hierarchische Systeme. Strukturelle Defizite vereinfachen Täter*innen die Anbahnung,
Ausübung und Vertuschung von sexualisierter Gewalt. Diesen Befund erbrachte erneut die
umfangreiche Missbrauchsstudie der Universität Ulm aus dem Jahr 2019. Der damalige
Unabhängige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung (UBSKM), Johannes-Wilhelm Röhrig, der
die Studie beauftragt hatte, betonte auch in diesem Zusammenhang wiederholt, dass Skandale
zwar das Leid der Opfer sichtbar machten, dass daraus aber häufig nicht die notwendigen
Konsequenzen gezogen werden. Über die erschreckend vielen Fälle innerhalb der beiden großen
Kirchen hinaus gibt es zahlreiche Anzeichen dafür, dass sexualisierte Gewalt auch in anderen
Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ein genauso schwerwiegendes, strukturelles
Problem darstellt. Jedoch gibt es hierfür nicht einmal erste Pilot-Studien, sondern vor
allem anekdotische Evidenz. Auch hier behindern patriarchale und hierarchische Strukturen
die Aufklärung, die bisweilen noch deutlich ausgeprägter sind als in der katholischen Kirche
und den Individuen – vor allem Frauen und Mädchen – noch deutlich weniger Spielräume lassen.
Auch diese Gemeinschaften weisen häufig einen defizitären Umgang mit ihrer
institutionsinternen Dokumentation auf und zeigen genauso wenig Interesse an der
Aufarbeitung von Gewalttaten.
Wir erkennen die Bemühungen derjenigen an, die sich innerhalb ihrer Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften für Prävention, Bekämpfung, Aufklärung und Aufarbeitung von
sexualisierter Gewalt an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen einsetzen.
Wir betrachten allerdings mit Sorge, dass es bisher beiden großen Kirchen nicht gelungen
ist, sexualisierte Gewalt durch hauptamtlich Mitarbeitende sowie durch ehrenamtlich Tätige
vollständig aufzuarbeiten und Betroffene auf allen Ebenen einzubeziehen. Auch sorgt uns,
dass viele andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften mit dieser Aufarbeitung noch
nicht einmal begonnen haben.
Die Bundesregierung hat den Handlungsbedarf erkannt und im Koalitionsvertrag festgelegt,
dass bezüglich struktureller sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen, wenn
erforderlich gesetzliche Grundlagen geschaffen werden. Dieses Erfordernis sehen wir als
dringend gegeben.
Sexualisierte Gewalt betrifft jedoch nicht nur Kinder und Jugendliche. Wir weisen darauf
hin, dass gesetzgeberische Maßnahmen für alle betroffenen Menschen notwendig sind.
1. Die Bundestagsfraktion wird aufgefordert, sich für folgende Gesetzesänderung einzusetzen:
§174c Strafgesetzbuch – Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs-
oder Betreuungsverhältnisses – wird um einen weiteren Absatz ergänzt:
„Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer Person, die ihm zur Beratung oder
Begleitung im institutionell religiösen oder weltanschaulichen Kontext anvertraut ist, unter
Missbrauch des Beratungs- oder Begleitungsverhältnisses vornimmt oder an sich vornehmen
lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einer
dritten Person bestimmt.“
2. Die Bundestagsfraktion wird aufgefordert, die Verlängerung der Verjährungsfristen bei
sexuellem Missbrauch zu überprüfen.
3. Wir fordern die Bundestagsfraktion auf, für die Seelsorge im institutionalisierten
Kontext analog zu den bestehenden Regelungen für den therapeutischen Bereich gesetzlich
fixierte Dokumentations- und Aufbewahrungspflichten zu schaffen. Die geltenden Regeln zur
Verschwiegenheitspflicht sind hierbei zu beachten.
4. Wir fordern die Bundestagsfraktion auf, dafür Sorge zu tragen, dass das Amt der
Unabhängigen Beauftragten eine angemessene personelle und finanzielle Ausstattung erhält.
Aufarbeitung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Damit diese angemessen und
betroffenenzentriert möglich wird, ist es unabdingbar, dass die aktuellen Strukturen der
Unabhängigen Beauftragten qualitativ abgesichert werden. Insbesondere die bei ihrem Amt
verankerte Unabhängige Aufarbeitungskommission sowie der Betroffenenrat sind so zu stärken.
Die Arbeitsgruppe „Aufarbeitung Kirchen“ soll verstetigt und besser ausgestattet werden. Ihr
Auftrag soll sich künftig auf alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften erstrecken.
Sie sollen zur Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe verpflichtet sein. Dies ist nur ein
wichtiger Teilbereich der Problematik.
Wir wollen auch Aufarbeitungsprozesse in anderen institutionellen Kontexten wie Sport,
Kultur, Schule, Jugendhilfe, Jugendverbänden, sowie allen Bereichen der Kinder- und
Jugendarbeit, aber auch Aufarbeitung im Kontext der Familie für Betroffene möglich machen.
Voraussetzungen für diese Arbeit sind Standards, Strukturen und transparente, verbindliche
Kriterien, sodass strukturelle Defizite identifiziert und konkrete Handlungsempfehlungen
erarbeitet werden.
Betroffenen soll im Rahmen von Aufarbeitungsprozessen eine angemessene Beratung und
Begleitung zur Verfügung stehen ebenso wie unabhängige Beschwerdestrukturen. In einer
gesetzlichen Grundlage sollen verbindliche Rahmenbedingungen geschaffen werden. Über eine
Berichtspflicht im Bundestag soll ein kontinuierliches Monitoring abgesichert und im
Ergebnis einer parlamentarischen Debatte zugeführt werden.
Analog zur Jugendhilfe soll der Zuständigkeitsbereich der Unabhängigen Beauftragten auf
junge Erwachsene bis 27 Jahre erweitert werden. Bei der hieraus folgenden Anpassung der
Bezeichnung des Amtes regen wir an, den Begriff des „Missbrauchs“ durch den im
Koalitionsvertrag verwendeten Begriff der „sexualisierten Gewalt“ zu ersetzen.
5. Wir fordern die Bundestagsfraktion auf, Anknüpfungspunkte an bestehende Strukturen zu
prüfen, damit Betroffene Unterstützung erfahren und verbindliche Zuständigkeiten entstehen.
Künftig muss der gesellschaftlichen Realität Rechnung getragen werden, dass Menschen jedes
Alters von sexualisierter Gewalt betroffen sein können. Wir wollen, dass alle Institutionen
hier ihre Verantwortung wahrnehmen.
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