Ist das Spritzensetzen einer Krankenschwester eine Tätigkeit, bei der die religiöse Ausprägung eine Rolle spielt? „Nein“, meint Felix W. Wurm. Der Politikwissenschaftler hat als Mitglied der Fraktion der Grünen im Rat der Stadt Osnabrück im November 2013 einen Beschluss erwirkt, der gleiche Rechte für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in kirchlichen Arbeitsverhältnissen fordert und der bundesweit als „Osnabrücker Initiative“ für Aufsehen sorgte. Bislang gilt für Einrichtungen der katholischen und evangelischen Kirche ein Sonderrecht, das Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Beispiel vorschreibt, Angehöriger der Kirche zu sein und einen Lebenswandel entsprechend der kirchlichen Moralvorstellungen zu führen.
Der Beschluss im Rat der Stadt Osnabrück ist bislang einzigartig in Deutschland, die Stadt des Westfälischen Friedens ist damit Vorreiter in der Diskussion um die Sonderrechte der beiden großen christlichen Kirchen beim Arbeitsrecht. Das betrifft die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller kirchlichen Institutionen, also auch in Kindergärten, Krankenhäusern und weiteren sozialen Einrichtungen. „Es wäre schön, wenn es auch in Bergisch Gladbach einen solchen Beschluss geben würde“, sagte Wurm jetzt bei seinem Besuch im Grünen Treff, wo er mit dem Gladbacher Bürgermeisterkandidat der Grünen, Peter Baeumle-Courth, und interessierten Bürgerinnen und Bürgern über das Thema diskutierte. „Das ist sicher ein Impuls, auch für Bergisch Gladbach“, sagte Baeumle-Courth, der aber auf die Mehrheitsverhältnisse im Stadtrat verweist: „Da sieht es in Osnabrück noch anders aus als zurzeit in Bergisch Gladbach.“
Wurm brachte den von ihm formulierten Antrag durch eine rot-grüne Mehrheit zum Beschluss, unterstützt durch Stimmen von Linken, Piraten und der Unabhängigen Wählergemeinschaft. Der Beschluss fordert die Verwaltung auf, künftige Verträge mit externen Trägern daraufhin zu prüfen, ob gleiche Rechte für alle Beschäftigten in von der Stadt finanzierten Einrichtungen angewendet werden können. Außerdem solle die Verwaltung auf von der Stadt finanzierte kirchliche Einrichtungen Einfluss nehmen, damit diese bis zu einer Gesetzesänderung freiwillig auf das kirchliche Sonderrecht verzichten. Und der Rat fordert den Bundesgesetzgeber auf, die entsprechenden Paragraphen im Allgemeinen Gleichhandlungsgesetz und im Betriebsverfassungsgesetz zu streichen.
„Mein Ziel war es, das Vorgehen der Kirchen nicht nur lokal, sondern auf Bundesebene zu verändern“, sagt Wurm, der in der jetzigen Praxis eine „Grundrechtsverletzung“ sieht. „Ein Teil der Osnabrücker Bevölkerung darf in den katholischen und evangelischen Einrichtungen nicht arbeiten“, sagt er. Konfessionslose, Bewerberinnen und Bewerber anderer Religionsgemeinschaften oder Menschen, die nicht nach den entsprechenden Grundsätzen der Kirchen lebten, seien aber nicht weniger geeignet: „Eine Krankenschwester, die zum dritten Mal verheiratet ist, kann genauso gut Spritzen setzen wie die erzkatholische Kollegin.“ Lockerungen habe es gegeben in den vergangenen Jahren. „Aber immer nur dann, wenn sich kein anderes Personal finden lässt“, weiß er.
Der Ratsbeschluss sieht die derzeitigen Regelungen lediglich bei verkündigungsnahen Tätigkeiten für sinnvoll. Wurm: „Ein katholischer Pastoralreferent muss entlassen werden können, wenn er aus der Kirche austritt.“ Bei einer Krankenschwester sei das aber nicht notwendig und die Gesetzeslage solle sich, so Wurm, „den gesellschaftlichen Veränderungen anpassen.“ 34,1 Prozent der Osnabrücker Bevölkerung sind konfessionslos oder gehört anderen Religionsgemeinschaften als den beiden christlichen Kirchen an. Wurm setzt allerdings keine großen Erwartungen in die Bereitschaft der derzeitigen Koalition, die aktuellen Sonderrechte der Kirchen abzuschaffen. „Meine große Hoffnung ist das Bundesverfassungsgericht oder die entsprechenden europäischen Gerichte.“ so Wurm. Durch seine langjährige Tätigkeit als Generalsekretär eines europäischen Dachverbandes für Politikwissenschaft ist Wurm im regen Austausch mit EU-Bürgern anderer Länder: „Die schütteln den Kopf, wenn sie von unserer Gesetzeslage hören.“
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