Gesellschaftspolitische Entscheidungen sollen Parlamente fällen, nicht Arbeitgeber*innen.

Diskussionsbeitrag: Werner Hager

Dieser Text interpretiert Religionsfreiheit in all ihren Dimensionen als eine Explikation der Allgemeinen Handlungsfreiheit. Dies erscheint
mir wesentlicher als sie als Teil einer Glaubens- und Gewissensfreiheit zu sehen, die von vorne herein rein innerlich bleibt.
Denn erst in der Handlungsfreiheit kann ein Konflikt mit den Freiheitsrechten anderer erfolgen.

Der Hidschab – der seit Jahrzehnten das umstrittene Kleidungsstück in der religionspolitischen Debatte ist – besitzt ersten eine Bedeutung, die über ein indviduelles religiöses Symbol bzw.  eine religiöse Praxis hinausgeht. Hier ist er nicht das einzige Kleidungsstück bzw. Accessoires. Allerdings trifft dies nicht auf alle religiösen Kleidungsstücke bzw. Assessoires zu. Die Nonnentracht beispielsweise sagt nichts über das Verhalten anderer Menschen aus, sondern kennzeichnet nur die eigene Zugehörigkeit, soll nicht einmal andere Christinnen auffordern, dieselbe Kleidung zu tragen.

Zweitens sollte die gesellschaftspolitische Relevanz Berücksichtigung finden. Nur Kleidungsstücke und Assessoires, die tatsächlich eine
Wirkung entfalten können, sollten reguliert werden. Alles andere wäre ein in der Sache nicht gerechtfertigter Eingriff in die individuelle
Handlungsfreiheit.

Nur insofern obliegt es dem Gesetzgeber, das Tragen religiöser Symbole und Praxen zu regulieren. Allerdings darf der Staat als objektive
Instanz aller Bürger*innen* hierbei nicht willkürlich vorgehen und als nichtreligiöser Staat auch nicht vom religiösen Standpunkt aus
begründen, sondern muss politisch argumentieren. Das heißt auch, dass er über politische Ideologien Aussagen treffen muss, wenn diese mit religiösen Symbolen verknüpft sind. Die Feuerbachsche Religionskritik und andere abstrakte Aussagen über Religion reichen hierfür alleine nicht.

Dieser politische Standpunkt ist anstrengend, denn er schont Religion nicht, unterwirft ihre Gesellschaftsvorstellungen der allgemein
gültigen Kritik. Hier wird auch ein Konflikt mit dem Islam und anderen Religionen** schärfer sein als mit dem real existierenden
westeuropäischen Christentum und seiner jahrtausendealten Koexistenz mit weltlichen Mächten und im Kontext der Religionskriege erfolgten Säkularisierung.

Politisch heißt dies, dass Parlamente und nichtreligiöse Parteien gegenüber religiösen Institutionen – zu denen eben auch Elemente wie
das Hidschab gehören – den Vorrang in gesellschaftspolitischen Fragen erneut erkämpfen. Diese Auseinandersetzung findet tatsächlich auf einem wesentlich niedrigeren Level ja auch mit den Kirchen z.B. in der Frage des Lebensschutzes statt. Nur ist dessen Ausgang bereits geklärt.

Felder, in denen Menschen hiervon betroffen sind, sind die private Lebenswelt und die Arbeitswelt sowie die Öffentlichkeit.
Der laizistische Weg der Verdrängung des Religiösen ins Private hat deutliche Nachteile, führt dazu, dass die Diskussion eben verdrängt,
nicht geführt wird. Er war historisch sinnvoll, um die Macht reaktionärer Kräfte politisch zurückzudrängen, und könnte auch in
Zukunft politisch notwendig sein, ist jedoch kein wünschenswerter Zustand.

Zudem ist für Grüne klar, dass die Trennung von Privat und Öffentlich selbst bestehende Herrschaftsverhältnisse verschleiert. Immerhin
stammen wir auch aus dem Feminismus und wissen über das Verhältnis von Familie und autoritärer Persönlichkeit.

In der Arbeitswelt besteht der Sonderfall der öffentlichen Hand als Arbeitsgeber. Hier ist der auf der Verfassung gründende säkulare Staat
Dienstherr. Dessen Legitimation liegt aber in seiner religiösen Unparteilichkeit. Er kennt – anders als der religiösde Staat – nur Menschen, nicht Angehörige von Religionsgruppen. Er weiß aber über die Bedeutung von Symbolen, drückt selbst keinen religiösen Charakter aus und erscheint den Einwohner*innen gegenüber in Gestalt von Richter*innen, Beamt*innen und öffentlichen Angestellten. In diesem Bereich ist die Sichtbarkeit eines religiösen Symbols durch Repräsentat*innen delegitimierend, dies betrifft insbesondere die Justiz. Neben den Säulen der Exekutive und Judikative existieren noch Wahlbeamt*innen und Parlamentarier*innen sowie Angehörige von Räten. Hier vermengen sich gewollt Individuen mit ihren persönlichen Vorstellungen von Ethik und Moral mit einer Staatsfunktion. Auch hier müssen Regeln laufend neu erkämpft werden. Dies trifft auch auf Schöff*innen in der Judikative zu. Umgekehrt muss aber auch klar sein, dass religiöse Strukturen, die Menschen von der Tätigkeit in öffentlichen Ämter ausschließen, gesellschaftlich nicht toleriert werden.

In der übrigen Arbeitswelt stellt sich die Frage, wer entscheiden darf, welche religiösen und politischen Symbole am Arbeitsplatz zulässig
sind. Der Arbeitsplatz ist hierbei erst einmal öffentlich und unterliegt hier den gesetzlichen Regelungen.
Im Rahmen des Willkürverbotes plädiere ich dafür, weder Arbeitgeber*innen noch Arbeitnehmer*innen noch Kund*innen hier die
Entscheidung zu überlassen. Nur objektive Kriterien wie ein  Konflikt mit der vertraglich geregelten Tätigkeit sowie Arbeitsschutz
sollte hier als Begründung für Einschränkung möglich sein.** Die Gewerkschaften und Verbraucher*innenorganisationnen sollten jedoch an parlamentarischen Debatten über religiöse Symbole in der Öffentlichkeit beteiligt werden.
Nicht zulässig halte ich hier insbesondere die Einschränkung des Verbots des Tragens aller religiösen und politischen Symbole unabhängig
von ihrer konkreten Bedeutung.

Allerdings muss erkennbar sein, dass es sich beim Tragen eines religiösen Symbols um eine private Positionierung, nicht die
Positionierung des Unternehmens handelt. Umgekehrt sollte bei einer Positionierung des Unternehmens symbolisiert werden, dass es sich nicht um die Position der Mitarbeiter*innen handelt. Hierfür besteht die Möglichkeit, Arbeitskleidung vorzuschreiben.

Um Ernst-Wolfgang Böckenförde zu zitieren: Es geht nicht um die Trennung von Kirche und Staat, sondern um ihre Unterscheidung. Oder in den heutigen regressiven Zeiten – in denen Moral und Kollektive Auftrieb erhalten – darum, diese Unterscheidung weiterhin im Bewusstsein zu halten.****

Anmerkungen
* Es ist staatliche Aufgabe, hierüber auch zukünftig eine Übereinkunft aller Bürger*innen zu reproduzieren, ansonsten verschwindet die Basis für die Gesellschaftsvertragskonstruktion. Hierfür notwendig sind Bürger*innen, die bereit sind, in der Politik gelöst von ihren aus der Religion stammenden Moralvorstellungen zu denken.
** Der Singular ist hier zentral, denn es handelt sich bei Weltreligionen um historisch wirkungsmächtige Kräfte und Quellen
von Legitimationsvorstellungen, auch wenn Religionen sich – in unterschiedlichem Maß – ausdifferenziert haben und ihre heutigen
Erscheinungen nicht essentialistisch alleine auf die Gründungszeit reduziert werden können, sondern sich mit ihren Entwicklungen im
Reaktionsmuster auf Moderne und postmodernen Zerfall befinden.
*** Hier besteht die Gefahr, dass ein vermeintlich objektiver, auf Ordnung beruhender, Friedensbegriff ähnlich dem StGB §166 verwendet wird.
**** D.h. eine rationale Politik zu betreiben, die vom Konzept der Freiheit und nicht von dem der Ordnung aus denkt. Böckenförde hat
zu recht herausgearbeitet, dass die Voraussetzung einer Identität von Staat und Gesellschaft nicht stimmt. Der Versuch, diese auf
Basis der bestehenden Gesellschaft in eins zu setzen, ohne deren Grundlagen aufzuheben, zerstört jedoch das freiheitliche Moment
der bestehenden Liberaldemokratie.

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