Kommentar zum 11-Punkte-Beschluss der religionspolitischen Kommisssion von Bündnis 90/Die Grünen

Beschluss der Landesmitgliederversammlung der Säkularen Grünen NRW
vom 11. Januar 2015 in Hagen

als Kommentar zum

„Beschluss der Kommission des Grünen Bundesvorstands „Weltanschauungen,
Religionsgemeinschaften und Staat“ (14. Oktober 2014) zu deren Ergebnissicherung sowie gemeinsamen Grundannahmen und –zielen“

Die Nummerierung der folgenden Punkte bezieht sich jeweils auf die entsprechend nummerierten Punkte im Kommissionspapier und ist jeweils inhaltlich als Erwiderung zu lesen.

1. Die Säkularen Grünen NRW sind sich einig in der Analyse, dass die Floskel „Nicht mehr zeitgemäß“ hinsichtlich des Staatskirchenrechts eine irreführende Camouflage darstellt. Das Religionsverfassungsrecht ist aus grundsätzlichen Erwägungen von Beginn an hochproblematisch. Individualisierung und Pluralität in der Gesellschaft haben sich auf die Anzahl auch der nichtkirchlichen Betroffenen dieses bereits für Kirchenmitglieder grundrechtsfeindlichen Systems steigernd ausgewirkt. Die Ausweitung des bestehenden Privilegiensystems löste diese Probleme auch nicht vermeintlich auf, sondern dehnte vielmehr seine fatalen Folgen gar noch aus. Ferner lassen sich Nichtkirchliche – seien diese nun Muslime oder Nichtreligiöse – auch nicht ohne massiven und illegitimen Eingriff des Staates in deren Weltanschauungsfreiheit nach dem Muster der christlichen Kirchen analog („Versäulung“) organisieren. Insbesondere für viele Konfessionsfreie ist sogar charakteristisch, im traditionellen Sinne nicht organisiert zu sein. Dies bedeutet nicht, dass deshalb deren Grundrechte weiterhin vernachlässigt werden dürfen.

2. Die Säkularen Grünen NRW begreifen die heutige Gesellschaft nicht vormodern, als eine Summe von Gemeinschaften („Kommunitarismus“), deren tendenziell unfriedliche Koexistenz der Staat einst nur mittels Bestechungsgeldern an die Clanoberen etwaig zu bändigen vermochte; sondern als Ort der freien Entfaltung der individuellen Persönlichkeit (Selbstbestimmung) in einem sozialen Beziehungssystem, welches bewusste, vorsorgende Verfügung über gemeinsame Lebensbedingungen durch kollektive Arbeit (u.a.: Daseinsvorsorge, Versicherung, Straßenbau, Sicherheit, Bildung, Schutz der Lebensgrundlagen) nach allgemeinem Recht gleichberechtigt ermöglicht.

3. Alle Normen des Rechts werden von Institutionen bzw. von dafür berechtigten Personen gesetzt und erlangen damit für die Rechtsgesellschaft Verbindlichkeit. In einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat werden diese in parlamentarischen Entscheidungen der Legislative festgelegt und mit Methoden der Vertragstheorie abgesichert. Recht und Moral sind dabei getrennte Kategorien. Basis des Zusammenlebens im Staat und Gesellschaft sind die universalen säkularen Menschenrechte und nicht etwa spezifische religiöse Gebote.

4. Sämtliche einer fiktiven Kollektivfreiheit zugeschriebenen Eigenschaften (Zusammenschluss von Individuen, öffentliche Ausübung) sind bereits völlig unbestreitbar legitimer Bestandteil der individuellen Glaubensfreiheit und so auch in der UN-Menschenrechtskonvention eindeutig kodifiziert. Gerade die hierzulande religiösen Institutionen gewährten Sonderrechte sind es jedoch, welche – weit jenseits der „Tendenz“ bzw. des legitimen „Verkündigungsbereiches“ – Grundrechtsverletzungen ermöglichen. Es ist Aufgabe Grüner Politik, diese leider noch legalen aber schon immer illegitimen Grundrechtsverletzungen durch Bestrebung zur Änderung der staatlichen Gesetze aktiv zu beseitigen.

5. Manche Religionsgemeinschaften basieren auf deutlich anderen Grundlagen und anderem institutionellen Selbstverständnis, als freiwillige Zusammenschlüsse (Vereine). Manche Kirchengemeinschaften sind strikt hierarchisch und autokratisch organisiert. Die nicht demokratisch legitimierte Kirchenführung tritt dort den subalternen Kirchenmitgliedern zugleich als Hüterin der ‚Wahrheit‘, Gesetzgeber, Staatsanwalt, Richter und Polizist gegenüber. Der Staat hat per kurioser Ausnahmebestimmungen zugelassen, dieses moralistische Zwangs- und Unrechtssystem auch noch auf öffentlich finanzierte Bereiche auszudehnen. Es ist Aufgabe Grüner Politik, diese Grundrechtsverletzungen durch Bestrebung zur Änderung der staatlichen Gesetze aktiv zu beseitigen (z.B. Streichung der Ausnahmebestimmungen in § 118 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz und § 9 Gleichstellungsgesetz). Diese überfällige Änderung kann keinesfalls darin bestehen, lediglich additiv zum fortgeschriebenen Unrecht den Klageweg vor staatlichen Gerichten zu ermöglichen. Zudem müssen Arbeitnehmer im kirchlichen Sektor die vollen Arbeitnehmerrechte erlangen. Nichtkirchliche Arbeitnehmer sind bislang im Sozialsektor diskriminiert.

6. Demokratische Staaten mit laizistischen Rechtssystemen sind beobachtbar unterschiedlich und korrespondieren auch mit sehr unterschiedlichen Gesellschaften. Das kann man nur historisch erklären. Ein zwingender Zusammenhang von Rechtssystem und Gesellschaftsentwicklung ist jedenfalls nicht feststellbar. Keiner der demokratischen laizistischen Staaten verbannt übrigens religiöse Menschen oder religiöse Gemeinschaften aus dem öffentlichen Leben. Überall sind Grenzsetzungen auch Gegenstand öffentlich streitiger Debatten. Intransparent sind hingegen die hierzulande in Geheimverhandlungen entstandenen Konkordate und Staatskirchenverträge. Und hochproblematisch ist es, statt den Citoyen und dessen verletzte Grundrechte endlich politisch in den Blick zu nehmen, eine verharmlosende Apotheose von Privilegien und deren Besitzern anzustimmen. Solange sich an den Ausnahmebestimmungen für die Kirchen nichts ändert, bleibt ein rhetorischer Rekurs auf eine vorgebliche Wertschätzung auch der Nichtreligiösen völlig substanzlos.

7. Es gibt im Grundgesetz kein Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, sondern ein Selbstverwaltungsrecht, und auch dieses lediglich innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes (siehe Art. 137, 3 WRV inkorporiert über Art. 140 GG). Die Praxis ist jedoch leider eine völlig andere: Damit systematisch kirchlich-grundrechtswidrige Praktiken formal gesetzeskonform hingebogen werden konnten, wurden in diverse Gesetze Ausnahmebestimmungen implementiert.
Es ist überfällig, diese grundrechtsfeindlichen Kirchenprivilegien durch Gesetzesänderung zu beseitigen. Mitnichten wäre hierzu eine Verfassungsänderung erforderlich. Und die Eingriffsschwelle berührt eben nicht innere Angelegenheiten, sondern vielmehr den öffentlich finanzierten Sektor. Aber auch sofern es um innerkirchliche Angelegenheiten geht, wie z.B. die Entlassung von Pfarrern, gibt es keinen legitimen Grund, diese Personen einem kirchlichen Sonderarbeitsrecht auszuliefern. Die staatliche Rechtspflege kennt auch hinsichtlich nichtkirchlicher Organisationen die Prinzipien der Loyalität und Tendenz und diese sind für die Wahrung legitimer Organisationsinteressen völlig ausreichend.

8. Die postulierte weltanschauliche Neutralität des Staates wird bereits mit Verfassungsnormen verletzt und in der Verfassungswirklichkeit vielfach unterlaufen. Die Positionierung zu einem korporativen statt einem passiven Verhältnis des Staates zu den Religionsgemeinschaften ‚hinkt‘ nicht lediglich charmant, sie schränkt Grund- und Menschenrechte ein. Auch findet in Teilen eine quasi Verstaatlichung von Kirche statt – wie sich besonders krass bei Militärseelsorgern in Uniform zeigt. Gleichbehandlung im Staat kann es nur auf einem Niveau geben: bei Wahrung der individuellen Grundrechte. Die Entflechtung von Staat und Kirche ist also keine vage vielleicht zu erwägende Eventualität, sondern ein aktiv und selbstbewusst zu verfolgendes und schon lange überfälliges und sehr weit reichendes politisches Ziel. Dieses Ziel besteht nicht darin, jegliche Veränderung, welche über eine lediglich graduelle Optimierung des in der Substanz unangetasteten Status Quo hinausgeht, von vorne herein abzulehnen.

9. Die Säkularen Grünen wollen das Religionsverfassungsrecht nicht zu dessen Rettung in Kleinigkeiten optimieren (Flexibilisierung und Ausweitung), sondern grundlegend ändern und in Teilen abschaffen. Wir sehen uns da im Einklang mit grünen Grundsätzen und mit gesellschaftlichen Mehrheiten. Hierzu auch immer einen Konsens mit Privilegienbesitzern über die Abschaffung ihrer Vorrechte herstellen zu müssen, wäre eine unerfüllbare Bedingung. Wir sind stolz auf die Streitkultur in unserer Partei.

10. Säkulare Grüne vertreten durchaus eine Globalalternative zum Status Quo. Dafür haben wir gute Gründe. Vage und ziemlich unverbindliche rhetorische Zugeständnisse ohne irgendeine greifbare Konkretisierung stellen hingegen keine Wahrnehmbarkeit eines tatsächlichen Verständnisses der politischen Dimension dar. Insofern kann der bisherige Kommissionstext keine Gesprächsgrundlage bilden.

11. Wer mit anderen über Grüne Werte streiten will, muss diese auch benennen und zur Basis von Gesprächen machen. Für eine Grundrechtepartei ist das Bekenntnis zu den Menschenrechten die nicht verhandelbare Vorbedingung jeglicher Gespräche.

Der Beschlusstext als rtf bzw. pdf

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