Ein weitestgehend friedliches Zusammenleben in einer modernen Gesellschaft kann nur gewährleistet werden, wenn religiöse und nicht-religiöse Menschen gleichberechtigt und freiwillig nebeneinander in dieser existieren können. Eine sich hieraus ergebende zentrale Anforderung an religiöse Gemeinschaften, in denen die religiösen EinwohnerInnen organisiert sind, ist damit die umfassende Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols.
Rousseaus Konzept der Zivilreligion formuliert darüber hinaus Anforderungen an die Gesellschaft: Diese benötigt ein gemeinsames Set an Normen, die von allen EinwohnerInnen gemeinsam getragen werden. Diese Normen können daher in einer pluri-religiösen Gesellschaft nicht aus einer oder mehreren Religionsgemeinschaften stammen, sondern müssen von der Gesellschaft selbst entwickelt werden. Sie können jedoch mit den Positionen einzelner Religionsgemeinschaften deckungsgleich sein. Dies stellt aber Anforderungen an die Religionsgemeinschaften.
Habermas Konzept der ‚epistemischen Pflichten‘, der wechselseitigen Anerkennung und Übersetzungsleistung säkularer und religiöser Positionen, formuliert einen Ansatz, wie eine derartige Gesellschaft ohne gewalttätige Eskalationen entstehen und sich entwickeln kann. Religiöse Menschen haben die Pflicht, ihre transzendentalen Positionen aus der sakralen Sprache in eine öffentlich nachvollziehbare Sprache zu übersetzen.
Säkulare Menschen hingegen haben die Pflicht, auch den möglichen Beitrag religiöser Menschen für die Entwicklung der Gesellschaft anzuerkennen und auch damit die Möglichkeit, aus religiösen Lehren gegebenenfalls noch Erkenntnis zu gewinnen. Auch Werte, die einer transzendental-metaphysischen Rechtfertigungslogik entspringen, können demnach durchaus in die Verfasstheit einer modernen, Habermas zufolge einer post-säkularen, Gesellschaft einfließen; müssen aber in eine säkulare Sprache übersetzt werden. Der Ursprung dieser Überlegungen entstammt seiner Theorie des kommunikativen Handelns.
Mit dem Begriff der post-säkularen Gesellschaft grenzt sich Habermas einerseits von konservativ-pessimistischen Sichtweisen ab, in denen starke, traditionell wertorientierte, Institutionen gefordert werden, um einem scheinbaren Verfall der Werte entgegenzuwirken. Anderseits distanziert er sich von einer ‚Säkularisierungsthese‘, bei der mit dem Fortschreiten der Säkularisierung automatisch ein Bedeutungsverlust der Religionen bis zu deren Verschwinden einhergehen würde. In der post-säkularen Gesellschaft entsteht ein neue Polarisierung, bei dem religiös-dogmatisierte Glaubensauslegungen sowie naturalistische Weltdeutungen jeweils an Bedeutung zulegen und aufeinander stoßen. Damit entstehen Gefahren für einen bestehenden Konsens des modernen, an Freiheit, Frieden und Gleichheit orientierten, Gesellschaftsvertrages in dem Demokratie und Menschenrechte die beiden miteinander verschränkten Legitimationssäulen politischer Herrschaft bilden.
An dieser Stelle ist eine neue öffentliche Debatte über Normen fällig. Die Gesellschaft muss – in einer kritisch-praktischen Beschäftigung mit Normativität – über ihre Normen explizit streiten und darf diese nicht einfach voraussetzen. Neueren konservativen Ansätzen, in denen mit Verweis auf institutionelle Traditionen und Weisheit bestimmte normative Positionen vorausgesetzt werden, kann so etwas entgegen gesetzt werden, damit überhaupt erst öffentliche Debatten und Diskurse – beispielsweise über religionspolitische und ethische Fragen – entstehen können.
In der folgenden Sitzung wollen wir uns mit dem Konflikt zwischen Rawls Theorie der Gerechtigkeit und kommunitaristischen Theorien beschäftigen. Der Kommunitarismus betont gegenüber dem Liberalismus die Bedeutung der Gemeinschaften, schwächt individuelle gegenüber kollektiven Rechten, fordert von den Individuen Pflichten gegenüber den Gemeinschaften ein. Religionsgemeinschaften stellen dabei die klassisch sinnstiftenden Gemeinschaften dar.
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